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Meine Gehirnblutung

Ich habe euch bereits reichlich über meine Seheinschränkung berichtet. Die Auswirkungen im Alltag oder wenn ich unterwegs bin. Doch nun erzähle ich euch von meiner Gehirnblutung. Der Auslöser, der alles veränderte, mir mein altes Leben nahm und mir ein neues Leben schenkte.

Kapitel 1: Was sind Kavernome?

Wie jeden Morgen saß ich gemeinsam mit meiner Familie am Tisch um zu frühstücken. Damals war ich 8 Jahre alt. Absolut unerwartet begann mein Mundwinkel zu zucken. Meine Eltern machten sich Sorgen und fuhren ziemlich aufgebracht  mit mir ins Katharinenhospital in Stuttgart. Bei einem MRT wurde dann herausgefunden, dass sich mehrere Kavernome in meinem Gehirn befinden.  Eines der Kavernome blutete, was  das Zucken des Mundwinkels verursacht hatte.

Letzten Endes verbrachte ich nach meiner ersten Gehirnblutung 3-4 Wochen im Krankenhaus. Anschließend ging der ganz normal Schulalltag  weiter. Zu diesem Zeitpunkt war ich in der dritten oder vierten Klasse. Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich kaum noch an Einzelheiten. Damals habe ich die Diagnose und das Ganze drumherum noch nicht so realisiert wie jetzt im Erwachsenenalter. Was Kavernome sind und was sie für Risiken  mit sich bringen, ist mir erst im Teenager-Alter klar geworden.

Kavernome sind Blutgefäßmissbildungen aus dünnwandigen, venösen Hohlräumen (Kavernen). Die Größe von Kavernomen kann von wenigen Millimetern bis zu mehreren Zentimetern variieren.

Bei einer Einblutung im Hirnstamm so wie bei mir, müssen Risko und Nutzen einer Operation besonders sorgfältig abgewogen werden.  In meinem Fall führte kein Weg an der Operation vorbei.

Aus diesem  Grund war die präzise Planung von entscheidender Bedeutung.

Die Symptome können sehr vielfältig sein. Viele Kavernome werden  durch Krampfanfälle symptomatisch. Neurologische  Defizite wie z. B. Lähmungen, Sensibilitäts-, Sprach-, Gleichgewichts- oder Sehstörungen können ebenso auftreten.

Wenn Kavernome stärker bluten, werden auch akute Kopfschmerzen beklagt.

Im November  2012, ich war damals 22 Jahre alt, stand meine OP an. Diese war notwendig, um den Druck von meinem Hirn zu nehmen, der für das Schwindelgefühl und die  Schmerzen verantwortlich war. Es gab keine andere Möglichkeit. Soweit ich mich erinnern kann, gab es gab es nicht dieses eine aufklärende Gespräch mit meinen Eltern über meinen Gesundheitszustand. Durch viele Gespräche mit meinen Eltern und den längeren Aufenthalt im Krankenhaus sowie die regelmäßigen Kontrolltermine – sprich MRT und Neurologie – kam die Aufklärung von selber. Je älter ich wurde, umso mehr Klarheit bekam ich. Die Diagnose Kavernome war zu Anfang ein Schock für mich, und die Vorstellung, dass die Kavernome mich mein Leben lang begleiten werden, auch.

Ich hatte ab sofort den Gedanken im Hinterkopf, dass jederzeit eine neue Blutung eintreten kann. Dieser Gedanke  jagt mir heute noch hin und wieder Angst ein. Die Kavernome sind so was wie eine tickende Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann. Im Alltag denke ich so gut wie nie darüber nach. Wenn ich an meine Zukunftspläne denke oder meine Kontrolltermine habe, wird mir das Ganze erst wieder richtig bewusst und es braucht ein paar Tage, bis das Gefühl der inneren Angst wieder vergeht.

Mein Leben von den diagnostizierten Kavernomen kontrollieren zu lassen, macht für mich keinen Sinn. All das hindert mich nicht daran, an meinen Zielen und Träume festzuhalten. Ich gehe seither mit dem Thema Gesundheit vollkommen anders um. Ich ernähre mich vegan und rauche nicht und trinke keinen Alkohol. Gerade Alkohol würde das Risiko für  eine neue Gehirnblutung erhöhen, und da mein Hirn eh schon ’nen Schaden hat, lass ich es lieber ganz bleiben. Vor allem kann ich seit meiner Gehirnblutung nicht nachvollziehen, wie manche Leute mit ihrer Gesundheit und ihrem Körper umgehen.

Kapitel 2: Die dritte Gehirnblutung

Ich befand mich gerade im Probehalbjahr meiner Fachhochschulreife, als die Schwindelgefühle sich bei mir bemerkbar machten. Durch meine vorherigen OPs, die ich mit 8 Jahren und einmal im Alter zwischen 11 und 12 hatte, ahnte ich es schon.  Also ging es ins Katharinenhospital in Stuttgart. Die Ärzte dort kannten mich bereits, und nach einem Kernspin, auch MRT genannt, war die Ursache klar. Der Arzt verkündete mir, dass eine Hirnblutung im Stammhirn vorliegt.

Doch was genau bedeutet das jetzt?

Bei einer Hirnblutung sammelt sich Blut im Kopf an, und je mehr Blut, desto größer der Hirndruck, da sich der knöcherne Schädel nicht ausdehnen kann. Durch den Druck wird das Gehirn gequetscht und feine Gefäße werden abgedrückt.

Zu Beginn wurde also eine medikamentöse Behandlung versucht. Ziel war es, die Schwellung zu reduzieren, damit der Hirndruck nachlässt. Zwei Stunden später saß ich mit meiner Mutter am Esstisch und bekam erstmal richtig das Heulen. In dem Moment fiel die komplette Anspannung von mir, und ich fing an zu realisieren, was eigentlich los war.

In den darauffolgenden Tagen nahm der Schwindel zu und der Druck war so hoch, dass ich noch nicht mal meinen Kopf beim Haarewaschen unten halten konnte. Als ob mein Kopf in einem Drehschraubstock liegen würde. Zu allem Überfluss fuhr uns der Krankenwagen, den wir schließlich riefen, ins falsche Krankenhaus, wo unnötige Untersuchungen von Ärzten gemacht wurden, die nicht im neurologischen Bereich tätig sind. Das Krankenhaus hatte schließlich keine neurologische Abteilung, die auf Blutungen von Kavernomen spezialisiert war. Schlussendlich sind wir dann doch im Katharinenhospital in Stuttgart angelangt.

Zwei oder drei Tage später war dann die OP angesetzt. Beim Aufklärungsgespräch  vom Narkosearzt wurde mir etwas mulmig zu Mute. Mit gesenktem Kopf saß ich im Rollstuhl, als  der Arzt, der die OP durchführen sollte, sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte.  Zwar war ich aufgrund des unerträglichen Hirndrucks nicht in der Lage meinen Kopf aufrecht zu halten, um ihm in die Augen zu schauen, allerdings brach die Frage aus mir heraus: „Können Sie mich einschläfern?“

Am Tag darauf wurde ich in den OP geschoben.

Kapitel 3: Das Resultat

Nach der OP lag ich lange Zeit im Aufwachraum. Laut meiner Familie haben sich die Ärzte bereits Sorgen gemacht, da sie nicht davon ausgegangen sind, dass ich mich nach dieser langen und schweren Operation nur so langsam erholen würde. Als ich dann endlich langsam wieder zu mir kam, war auch mein älterer Bruder erleichtert, der den Tränen schon sehr nahe gewesen war. Ich fühlte mich wie in rosa Zuckerwatte gepackt. Schläuche um mich herum sowie Ärzte, die ich in meinem benommenen Zustand nicht richtig wahrgenommen oder registriert habe. Immer noch benommen, wurde mir der Beatmungsschlauch allmählich aus dem Hals entfernt. Als ich mich in kleinen Schritten von der Narkose erholte und wieder anfing zu essen, wurde mir so schlecht. Ich konnte keine Mahlzeit bei mir behalten. War das unangenehm, mich vor der Familie zu übergeben. Wie ich später erfuhr, hatte sich eine Art Blutschwamm  gebildet, und der übte  Druck auf das Gehirn aus.

Es kam also wie es kommen musste. Ich war gezwungen, erneut eine Gehirn-OP über mich  ergehen zu lassen. Dieses Mal wurde ein Bohrloch gesetzt, um einen Schlauch einzuführen, damit das Blut in einen Beutel abfließen konnte.  Endlich war ich in der Lage, das Essen in mir zu behalten. Durch die beiden OPs ging es mir zwar besser, allerdings war mein Sehvermögen eingeschränkt. Zu allem Überdruss musste ich über Nacht einen Uhrglasverband tragen, damit das Auge durch den fehlenden Liedschluss nicht austrocknete. Ein  Uhrglasverband ist ein spezieller Augenverband, der das Auge vor Infektionen schützt sowie vor dem Austrocknen. Dieser Verband besteht aus einer durchsichtigen Kunststoffkappe, die an ein Uhrglas erinnert. Um dieses Kunststoffkappe herum ist ein Pflasterverband befestigt. Am schlimmsten war für  mich, dass ich nicht mehr gehen konnte. Zusätzlich kam die Spastik am linken Arm dazu und Gesichtslähmung auf der rechten Seite. die Gesichtslähmung war für mich am unproblematischsten.

In der Reha besuchte ich eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB), beides fand im Hegau-Jugendwerk in Gailingen statt, wo ich  1 1/2 Jahre lang war. Die Ärzte ermutigten mich, dass sich mein Zustand mit viel Ehrgeiz und Willen verbessern kann. Inwieweit dies möglich ist, wollten sie nicht sagen. Wäre auch schön dumm, wenn sie sich festlegen lassen. Am Ende, wenn es dann doch nicht so ist, haben sie eine Klage am Hals. Während der Zeit in der Reha kristallisierte sich nach und nach heraus, in welchem Bereich Entwicklungspotenzial vorhanden war.

Die Spastik blieb zwar, dafür ist der Arm lockerer geworden und die Muskulatur stabiler. Die Grobmotorik funktionierte, die Feinmotorik ist bis heute  problematisch. Die größte Entwicklung wurde beim Laufen festgestellt. Heute ist der Rollstuhl Vergangenheit. Was die Seheinschränkung betrifft, gab es keine große Veränderung, außer dass ich nach 3 Jahren Augenklappe und 9 Augen OPs die Augenklappe endlich nicht mehr benötige. Die Gesichtslähmung blieb, allerdings gehört sie zu den Einschränkungen, die mich so gut wie gar nicht behindern. Während der 3 Wochen Klinikaufenthalt lag ich entweder im Bett oder besuchte mit meinen Eltern den Kiosk.

Gerade die Anfangszeit in der Reha war hart. Die jetzige Situation zu akzeptieren, Unterstützung beim Toilettengang, Duschen und Anziehen erstmal anzunehmen. Sobald ich die Tatsache akzeptierte, begann ich mehr auf Leute zuzugehen sowie zu kämpfen, und ich verspürte den Drang etwas zu ändern.

Kapitel 4: Anders sein

Reha Aufenthalt und die Rückkehr in ein neues Leben.

Mit dieser Einstellung ging ich motiviert in die Therapien rein.

Ich machte wirklich alles mit. Muskelaufbau der Beine, Gleichgewichts- und Ausdauertraining am Laufband, Ergometer und sogar für Schwimmen fand ich eine neue Leidenschaft. Einmal band mir die Physio-Tehrapeutin ein Seil um meine Taille, mit dem sie mich wie einen Hund an der Leine führte. Der Beweggrund dafür war, dass ich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht richtig das Gleichgewicht halten konnte und die Gefahr bestand, dass ich beim Gehen stolpere. Damals trug ich noch einen Gips, der mein Bein stabilisierte.  Auch wenn ich mir wie ein Köter vorkam, ich machte mit. Nach über einem halben Jahr sah vieles bereits anders aus. Statt im Rollstuhl zu sitzen, lief ich am Rollator, die Ausdauer war wesentlich besser und ich konnte mich leichter mit meinen Einschränkungen arrangieren.

Im Laufe der Zeit hatte ich 9 Augen-OPs und konnte erst nach 3 Jahren endlich ohne Augenklappe rumlaufen. Klar, der Nystagmus bleibt, aber das Augenlid konnte sich wieder schließen. Nachts Bepantensalbe, tagsüber Augentropfen zum Ersatz der Tränenflüssigkeit, und das war’s. Für mein Empfinden ist das ein gigantischer Fortschritt.
Trotz des Fortschrittes gibt es einiges, was sich verändert hat. Statt im Haushalt mit anzupacken, gebe ich Anweisungen. Kommunikation hat eine ganz neue Bedeutung für mich gewonnen. Es fallen mir viele Dinge auf, die für die meisten selbstverständlich sind und ich betrachte so manches aus einem anderen Blickwinkel.
Wofür ich dankbar bin.

Auf die Vorurteile und die ständige Rechtfertigung für meinen Unterstützungsbedarf könnte ich aber wirklich verzichten. Sei es von Fremden oder den eigenen Familienmitgliedern, die einen selbst therapieren wollen. Und sie meinen, stets zu wissen, was alles zu funktionieren hat und was nicht – anstatt mir einfach zu vertrauen, dass ich selbst weiß, wo Unterstützung notwendig ist und wo nicht. Anders ausgedrückt: mich so zu akzeptieren, wie ich bin, und nicht ständig mit Ratschlägen und Tipps zu kommen. Selbst dann, wenn Sie es bloß gut meinen.

Kapitel 5: Was nun?

Derzeitig finden regelmäßig Physio- und Ergotherapie statt, um das Level zu halten. Privat gehe ich Wandern und zweimal die Woche Schwimmen, sofern ich die passenden Begleitpersonen habe. Zusätzlich habe ich in regelmäßigen Abständen Kontrolltermine bei meiner Neurologin, MRT und bei meinem Augenarzt.

Die Kavernome werden mir immer bleiben – und mit ihnen das Risiko einer erneuten Hirnblutung.

Mein Weg: In Etappen zur Zielgerade

Vom Rollstuhl bis zum Rollator war es ein langer Weg. Doch lasst mich zum Anfang zurückspulen. Ich erzähle euch in fünf Kapiteln wie ich schon im Krankenhausbett mit Physiotherapie begonnen, mich wieder in Form gebracht habe und heute körperlich fit halte.

1. Kapitel: Mein Körper ist mein Tempel

Es ist hart in den sauren Apfel zu beißen und die Ist-Situation so anzunehmen wie sie im Augenblick ist. Vorher noch als Fußgänger unterwegs und  – zack, bam –  war der Rollstuhl mein neuer Freund. Nach meiner Hirnblutung im Jahr 2012 konnte ich nicht mehr gehen, an meinem linken Arm funktioniert seither nur noch die Grobmotorik und mein Sehvermögen war plötzlich eingeschränkt. Schlagartig habe ich bei den normalsten Alltagssituationen Unterstützung benötigt. Beim Anziehen der Kleidung, beim Toilettengang oder beim Duschen. Eine grauenhafte Vorstellung, die nur schwer zu akzeptieren war. Andere dringen in deine Intimsphäre ein, und es gibt nichts was du dagegen tun kannst, außer deine Scham zu überwinden und es zuzulassen. Es gibt keine Alternative. Doch überraschenderweise gewöhnt man sich selbst an diesen Umstand.
Um aus dieser Lage herauszukommen, standen folgende Ziele im Fokus:

  • Muskelaufbau in den Beinen
  • Training der Motorik des linken Armes, die durch die Spastik eingeschränkt war und teilweise immer sein wird

Um diesen Vorsatz zu erreichen, fordert  es einen starken Willen und viel Disziplin.

Von nix kommt nix, denn die Therapeuten stehen dir zwar zur Seite, doch die Arbeit wird einem nicht abgenommen. Letztendlich zahlten sich jegliche Strapazen, die ich auf mich nahm, aus. Und all die Zweifel, die ich während der Reha-Zeit verspürte, waren wie weggeblasen. Dank den lieben Mit-Patienten und dank der Unterstützung meiner Familie überstand ich auch diese Phasen.

Jetzt, mehr als zehn Jahre später, gehört der Rollstuhl längst der Vergangenheit an, stattdessen gehören der Rollator sowie meine Beinschiene zum Hier und Jetzt.

Heute bin ich außerhalb der Wohnung mit Assistenz unterwegs. Mit  vollstem Vertrauen halte ich mich an der Schulter meiner Begleiter fest, auf die ich mich im Alltag verlassen kann. Dies lässt mich Barrieren leichter überwinden. In solchen Situationen trage ich als Hilfsmittel nur noch meine Beinschiene am linken Bein.
Der Rollator wird bei Alleingängen stets in Anspruch genommen.

Drinnen in meiner gewohnten Umgebung kann ich sogar ohne Schiene laufen. Selbstständiges Duschen ist wieder möglich. Beim Anziehen der Kleidung übernimmt der rechte Arm den Hauptpart, doch der linke Arm kann trotz Spastik mit helfen.

Wie ich es geschafft habe, meinen Körper durch Muskelaufbau wieder auf Vordermann zu bringen, und was mir dabei geholfen hat, erfahrt ihr im nächsten Kapitel.

2. Kapitel: Bewegung für Körper und Geist

Muskeln und Kondition zu verlieren geht ziemlich schnell, sie hingegen wieder aufzubauen ist ein  langer und steiniger Pfad.

Wie ich das geschafft habe?

Ich erzähl’s euch!

Das größte Hindernis ist es, zu akzeptieren, dass es unterschiedliche Phasen des Fortschritts gibt.
Meist kommt erst ein gigantischer Schub an Entwicklung, und dann geht es immer wieder in kleinen Schritten voran.

Somit ist viel Geduld und Ausdauer gefragt.

Einen ersten Versuch das Bett zu verlassen, habe ich bereits im Krankenhaus gemacht. Eine Schwester  stützte mich dabei. Damit der Kreislauf in Schwung kommen konnte.

In der Reha habe ich später in der langen Zeit von eineinhalb Jahren herausgefunden, was mir am meisten hilft und was  für mich nicht in Frage kommt. Ergometer, Laufband und Schwimmen dienten zum Aufbau von Ausdauer und Kondition. Doch bis das klappte, musste ich erst einmal Rückschläge hinnehmen. Die Überraschung war groß, als ich feststellen durfte, dass ich  mich bei dem Versuch scheiterte, mich über Wasser zu halten. Wie soll das auch klappen, wenn die Muskulatur fehlt? Der Bewegungsablauf war klar, doch ohne Muskeln läuft da nichts.

Auch wenn das Schwimmen nicht immer ohne war, wurde es zu meiner Lieblingssportart, dicht gefolgt vom Wandern in der Natur.

Gleichgewichtstraining am Stepper, Übungen am Trampolin oder mit dem Ball gehörten nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Nichtsdestotrotz hängte ich mich voll rein, da auch diese therapeutischen Maßnahmen für das Gleichgewicht wichtig sind.

So ist es mir mit der Zeit möglich gewesen, bei  unvorhergesehenen Stolperfallen,  die mich ins Schwanken geraten ließen, wieder mein Gleichgewicht zu finden.

Um die Beinmuskeln wiederherzustellen half mir das Stehen  auf einer Vibrationplatte, die meine Tiefenmuskulatur stimulierte und meine Beine stabilisierte. Vor allem das linke Bein benötigt diese Stabilisierung und erhält im Alltag durch eine Schiene noch zusätzlich mehr Halt.

Schnell kam ich zu der Erkenntnis, dass das Laufen sowie das Schwimmen alleine nicht ausreichen um meine Beinmuskelatur zu erhalten, und dass so eine Vibrationplatte für den Hausgebrauch ganz schön viel Holz kostet.

In seltenen Fällen, wenn man Glück hat, findet man eine Praxis, die mit solch einer Platte ausgestattet ist. Allerdings hat das Training mit der Vibrationsplatte auch seinen Preis, den ich selbst bezahlen muss. Die Krankenkasse finanziert dieses Training nicht.

Ich fasse noch mal zusammen, was mir bei der Genesung am meisten geholfen hat.

  1. Laufband
  2. Schwimmen
  3. Vibrationsplatte
  4. Gleichgewichtstraining

Wenn ihr wissen wollt, warum ich mich für bestimmte Sportarten wie Schwimmen oder Wandern entschieden habe und wie sich das Ganze auf meinen Körper auswirkt, dann lest in Kapitel 3 weiter.

3. Kapitel: Integriere Sport in deinen Alltag

Regelmäßige Bewegung bringt nicht nur den Kreislauf wieder in Schwung, sondern regt auch den kompletten Bewegungsapparat an. Sie verringert die Anfälligkeit von Rückenproblemen und sorgt für bessere Ausdauer und Kondition.

Diese Sportarten baue ich regelmäßig in meinen Alltag ein, damit ich meine körperliche
Fitness nicht verliere.

Zwei mal die Woche begebe ich mich ins Schwimmbad.

Ein- bis zweimal die Woche gehe ich Walken.

Wandern findet einmal im Monat statt.

Zusätzlich steht einmal die Woche für eine Stunde Physio auf dem Programm. Nicht zu vergessen: einmal Ergotherapie pro Woche für 45 Minuten.

Natürlich wird das Sportprogramm an den Alltag angepasst.

So gehe ich seit ich umgezogen bin nicht mehr so oft schwimmen, dafür zweimal die Woche ins Fitness. Am neuen Wohnort muss ich noch Assistenten für den Sportbereich suchen.

Wann ich welche Sportart begonnen habe, kann ich  nicht mehr genau sagen. Doch noch viel bedeutsammer als das Wann ist das Warum.  Denn ohne ein Warum ist das Scheitern vorprogrammiert.

Im Vergleich zu vielen anderen Sportarten werden  beim Schwimmen mehrere Muskeln gleichzeitig eingesetzt. Die Arm-, Bein, Schulter und Brustmuskulatur werden beim Brustschwimmen besonders trainiert. Darüber hinaus die Gesäß- und die gesamte Beinmuskulatur.
Mehr Ausdauer und Kondition sind großartige Nebeneffekte, die durch anhaltendes Training erreicht werden können.

Doch nicht nur Schwimmen trainiert gewisse Muskelnpartien, auch Wandern verlangt meinem Körper einiges ab.

Wandern nimmt genau die Muskeln voll in Anspruch, die wichtig sind, um den Stützapparat aufrecht zu halten. Das betrifft die Bein-, Rücken- und Bauchmuskulatur.

Sie geben meinem Körper den richtigen Halt für ein gesundes Gleichgewicht und einen stabilen Gang.

Aufgrund meiner Halbseitenlähmung ist es aber auch wichtig, die Tiefenmuskulatur zu trainieren. Manche Physiotherapie-Praxen verfügen dafür über eine Vibrationsplatte.

Während des halbstündigen Trainings wird auf der Platte die Tiefenmuskulatur über Schwingungen erreicht, die bei einem normalen Workout oftmals gar nicht erreicht wird.
Das Vibrationstraining stärkt die Beinmuskulatur und den Gleichgewichtssinn.

4. Kapitel: Meine Hilfsmittel beim Sport

Für jede dieser sportlichen Aktivitäten brauche ich gewisse Hilfsmittel, ohne die ich nicht auskomme.

Darunter fallen unter anderem mein Schwimmgurt, ohne den ich mich nicht auf Dauer über Wasser halten kann. Aber auch die Schwimmbrille, die vor allem das rechte Auge schützen soll, da dort die Reaktion des Augenlids aufgrund meiner Gehirnblutung verlangsamt ist. Auf Wanderschaft darf abgesehen von den Wanderschuhen die Schiene nicht fehlen. Schließlich dient sie zur Stabilisierung des Beins und somit zur Unterstützung des Knies, außerdem sorgt sie dafür, dass der Fuß nicht abknickt. Was ich auch nie vergessen darf, sind die Augentropfen für den Ersatz der Tränenflüssigkeit des rechten Auges.

Durch meine halbseitige Lähmung der kompletten linken Körperhälfte ist regelmäßiger Sport von immenser Bedeutung. Ein längerer Ausfall hat harte Konsequenzen für mich.

Welche Konsequenzen das sind, erläutere ich im letzten Kapitel.

5. Kapitel: Folgen mangelnder Bewegung

Die Konsequenzen lassen sich ziemlich kurz zusammenfassen. Die Fitness und vor allem die Muskelatur lassen nach.  Dies macht sich vor allem am Bein und an der Rückenmuskulatur bei mir bemerkbar.

Ohne Training würde mein linkes Bein instabiler werden. Auch meine Körperhaltung wäre schlechter, weil mich meine Rumpfmuskulatur speziell auf der linken Seite aufrecht hält. Durch all das hätte ich mehr Gleichgewichtsprobleme und wäre weniger mobil. Und das wäre für mich der Horror.

Das Problem ist, dass ich meine körperliche Verfassung nicht alleine aufrechterhalten kann. Um Sport machen zu können, brauche ich meine Assistenten. Fallen sie krankheitsbedingt aus, sagen aus anderen Gründen ab oder fehlen mir die passenden Leute für diese Unterstützungsarbeit, leidet meine Gesundheit darunter.

Ich brauche ein zuverlässiges Team, damit ich auf Dauer auf dem aktuellen Fitness-Level bleibe. Denn wenn ich eines nicht möchte, dann ist es, wegen mangelnder Assistenzhelfer einen Rückschlag zu erleiden.

Festival in vollem Gange!

Die Besucher strömen dem Sound entgegen, der vom Festivalgelände zu hören ist. Sie sind bunt gekleidet und super drauf – ganz anders als ich viele Menschen im Alltag erlebe. An fast jedem Essensstand, wo es Fritten, Wraps und sonstige Leckereien gab, stehen die Leute Schlange und warten voller Ungeduld bis sie an der Reihe sind.
Sonnenlicht dringt in jede einzelne Pore meiner Haut. Der Strohhut ist seit dem allerersten Festival mein treuer Begleiter.

Damals auf dem Happiness-Festival in Straubenhardt begegnete mir Jack. Ich saß im Rollstuhl wie jedes Jahr, wenn ich bei Festivals am Start bin. Im Normalfall bin ich zu Fuß unterwegs. Statt Blindenstock leiht mir meine Begleitpersonen die Schulter zum Festhalten. Seheinschränkung plus Gleichgewichtsprobleme das kann schon mal je nach Situation heikel werden.
Auf Festivals dient mir der Rollstuhl dazu, um schneller zu den Behinderten-Tribünen zu gelangen. Außerdem kann ich definitiv keine 2-3 Stunden am Stück stehen, während auf der Konzert-Bühne die Post ab geht.

Bei einem gemeinsamen Bier erzählte mir Jack von seiner Schwester, die das Down-Syndrom hat. Er ermutige sie immer wieder dazu, mehr raus zu gehen, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Aus dem Grund finde er es auch so toll, dass ich hier sei. Trotz Handicap, verstehe sich.
WIESO betonen die Normalos das immer? Denken die, es fühlt sich gut an, auf seine Behinderung reduziert zu werden?
Er hätte doch einfach sagen können: ,,Schön, dass du mitfeierst!‘‘

Erst Hirn einschalten und dann sprechen, ist wohl zu viel verlangt.

Der Duft von Pommes steigt in meine Nase, als mir Rina die Fritten auf den Schoß legt. ,, Kann’s losgehen?‘‘, fragt sie.
Die Frage reißt mich wieder aus meiner Gedankenwelt ins Hier und Jetzt.

Denn in diesem Moment sind wir auf dem Festival Rock am Ring. Also, los gehts!

Rina, die genauso ein Faible für Festivals hat wie ich, hat einfach alles im Griff. Sie sieht und hört alles.

Wir zwängen uns durch die Menschenmasse und bahnen uns den Weg in Richtung Behinderten-Tribünen. Auf dem gesamten Festivalplatz dröhnt Musik aus den Boxen, die breite Masse jubelt, betrinkt sich und ist in Feierlaune. Es ist herrlich!

Auf der Tribünen angelangt, schiebt mich Rina die Rampe hoch. Fast nur Rollifahrer vor Ort, die kaum was von der Bühne sehen und eher durch die Gitterstäbe blicken. Zumindest stelle ich es mir so vor.
Zum Glück kann ich mich frei bewegen und brauche nicht ständig im Rolli zu sitzen.

Es treten SDP auf die Bühne und heizen den Leuten erstmal richtig ein, bevor sie ihre Songs zum Besten geben.

Die Öffentlichkeit tobt, singt aus vollem Halse mit und bewegt sich zum Rhythmus. Von der Bühne sehe ich kaum etwas, selbst die großen Bildschirme, die rechts und links befestigt waren, bringen nicht viel.

Ich nehme ein paar Bildfetzen wahr, die Lichter vom Monitor und die Scheinwerfer, die die Bühne zum Leuchten bringen. Ich tanze im Tankt und lausche dem Klang der Stimmen von Vincent und Dag. Ich mag die Passage mit der tiefen Stimmlage von Dag am meisten, und Vincents Talent fürs Entertainment.

Unter anderem treten im Lauf des Festivals noch Alligatoah, Die Ärzte , Kontra K und andere auf.

Auf dem Festivalplatz sucheen wir uns ein schattiges Plätzchen, um der glühende Hitze für einen Augenblick lang zu entkommen.

Während Rina uns was zum trinken holt, beobachte ich das Treiben der Menschenmassen. Wobei ich nur den Teil regestrierte, der direkt vor mir in Sichtweite ist. Was sich rechts und links von mir abspielt, bemerke ich durch mein eingeschränktes Gesichtsfeld überhaupt nicht. Dazu muss ich dann wirklich meinen Kopf in die dementsprechende Richtung bewegen.

So sehe ich erst in letzter Sekunde den leicht angetrunkenen Kerl, der seine Hand ausstreckte und mir im Vorbeilaufen ein High Five schenkt.

Ich erschreckte mich. Rina kommt mit den Getränken in beiden Händen.

Entspannt trinken wir unsere Becher leer und wollen schon zum nächsten Auftritt, als ein Mädchen in Hotpants, die untenherum ganz ausgefranst waren, auf mich zukommt. An dem Tag trug ich ein zierliches Sommerkleid mit einem Mandala Muster das mit roten Blüten versehen war und dunkleblaue Punkte in der Mitte der Blüten hatten.

Das Mädchen bittet darum, ein Foto von mir, ihr und Rina machen zu dürfen. Ihr Freund schnappt sich die Kamera und schießt ein Bild von uns dreien. Das Mädchen bedankt sich und zieht mit ihrem Freund weiter.

Ich nehme solche Dinge erst wahr, wenn Rina mich darauf aufmerksam macht, oder wenn die Person direkt vor mir steht und mich anspricht. Wenn die Person zum Beispiel von links kommt, sollte sie sich erst mal ankündigen, sich mit Namen vorstellen – und dann können wir ins Gespräch kommen.

Nach einigen Konzerten geht es ein letztes Mal in Richtung Zeltplatz.

Statt sich die Kante zu geben, gibt es alkoholfreie Getränke. Im Hirn hab ich eh schon nen Knacks – und Epileptiker-Medikamente plus Alkohol ist auch keine coole Sache.

Die Euphorie geht trotz allem nicht verloren. Die Leute in ihrem Rausch in ihren Zelten zu beobachten, wie sie saufen, torkeln, kotzen ist im nüchternen Zustand viel amüsanter.

Das bekommt selbst so ein Blindfisch wie ich mit.
Rina schildert ja teilweise das Geschehene im Einzelnen.

Das erinnert mich an das Southside Festival 2018.
Kein Plan, welche Band damals gespielt hat. Es gab auf jeden Fall ausgiebig Pizza. Während Rina was zum Bechern besorgte, verlor mein Gesicht immer mehr Farbe und mir wurde hundeelend. Ich musste brechen. Rina, die mittlerweile wieder bei mir war, holte einen der Sanitäter. Der war so schlau und erkundigte sich bei Rina, wie es mir ginge, und hilflos stellte er die Frage, was er denn machen solle. Rina verschränkte die Arme und wies mit einem strengen Blick darauf hin, mich gefälligst selber zu fragen, denn ich war schließlich ansprechbar.

Er stellte dieselbe Frage an mich und ich meinte bloß, dass ich aus der Menschenmasse raus wollte. Rina schnappte sich den Rollstuhl, und wir ließen den anscheinend komplett überforderten Sanitäter hinter uns.
Runter von der Tribühne musste ich plötzlich auf die Toilette. Ein Mann der hackedicht war, nuschelte wie leid es ihm tue, das sein Kumpel die Behinderten-Toilette blockierte. „Bin ich denn hier von Vollidioten umgeben?“, dachte ich mir in meinem so oder so bereits schlechten Zustand. Die Leute räumten den Weg frei und nach dem ganzen Durcheinander waren wir endlich abseits von der Menschenmenge.

Am Tag darauf lachten Rina und ich darüber. Wir scherzten, was für gute Sanitäter wir doch wären, und dass dieser Depp von gestern anscheinend seinen Beruf vollkommen verfehlt hat.

Zurück zum Festival Rock am Ring.

Wir lassen den letzten Abend gechillt ausklingen und am nächsten Tag brechen wir schwermütig unsere Zelte ab, verstauen das Gepäck im Auto und fahren nach Hause.

Jetzt, nach der Corona-Pandemie, hoffe ich, dass ich am 2.7.2022 auf das Tollwood-Festival nach München gehen kann.

Ich und meine Wenigkeit, aufgenommen in München im April 2022.

Ich und meine Wenigkeit

Mein Name ist Franziska Spitz. Ich bin 32 Jahre alt und lebe seit 2012 mit einer Seh- und Geheinschränkung infolge einer Hirnblutung im Stammhirn.

Auf meinem  Weg in Richtung Freiheit möchte ich euch mitnehmen, raus aus dem Wohnheim und rein ins selbstbestimmte Leben.

Um diesen Weg zu beschreiten, musste ich auch den Blick zurück richten auf eine schwierige Zeit, die mir aber die Augen geöffnet hat, wie ich nicht leben möchte. Die mir gezeigt hat, wie wichtig es mir ist, selbst über die Richtung bestimmen zu können, in die sich mein Leben entwickelt.

Wo soll ich anfangen? Ich kenne das Gefühl der Einsamkeit, verletzt am Boden zu liegen und von seinen Mitmenschen enttäuscht zu werden.

Von den Betreuern im Wohnheim nicht ernst genommen, suchte ich mir Ehrenamtliche zur Unterstützung für meinen Alltag. Deren Dienstleistung wird seit 5 Jahren von meinen Eltern finanziert.

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) aufgrund von Unterforderung in der Behindertenwerkstatt.

Ein paar Wochen in der Psychiatrie brachten Klarheit.

Abbruch der Behindertenwerkstatt war der erste Schritt. Statt Frust und Schokolade bestimmt seither Aktivität meinen Alltag: 2 x die Woche gehe ich Schwimmen sowie 1x die Woche Laufen. Zum Sport kam die vegane Ernährung.

Städtetouren, Festivals und Kneipentouren gehören zur Freizeitgestaltung dazu.

Ich genieße nach dem Sport die körperliche Auslastung, die ich davor lange nicht erleben durfte, weil solche Aktivitäten wie Wandern oder Schwimmen im Wohnheim nicht vorgesehen sind. Immer wieder konnte jetzt auch wieder mein Humor aufblitzen.

Doch all das brachte mir keine Erfüllung. So suchte ich mir eine Sozialarbeiterin und beantragte ein persönliches Budget, um langfristig aus dem Wohnheim rauszukommen. Ich möchte in einer eigenen Wohnung oder einem WG-Zimmer in einer Wohngemeinschaft leben.

Das wird also Schritt 2 in die Freiheit.

Ich habe es satt, dass Lehrer und Betreuer mir nichts zutrauen, sondern erwarten, dass ich Herausforderungen NICHT meistern kann und gewisse Ziele NIE erreiche.

Um finanzielle Freiheit zu erlangen, beginne ich 2022 eine Schulung bei Quikstepp, die speziell  für Blinde und Seheingeschränkte angeboten wird.